Man schrieb das Jahr 1212 und alles begann mit einem folgenreichen Haarschnitt.In der Nacht vom Palmsonntag auf den Montag in der Karwoche verlässt Chiara Offreduccio ihr reiches und angesehenes Elternhaus im Stadtzentrum von Assisi. Franziskus und einige seiner Brüder erwarten sie schon vor dem Kirchlein S. Damiano. Als äußeres, symbolträchtiges Zeichen schneidet er Klara die Haare ab und sie wechselt ihre prächtigen Adelskleider mit einer einfachen Kutte. In dieser Nacht beginnt für Klara ihr Weg in der Nachfolge des armen Jesus. Schon sehr bald schließen sich andere Frauen ihrer Gemeinschaft an, darunter ihre Schwestern Katharina und Beatrice und sogar ihre Mutter Hortulana. Seither sind 800 Jahre vergangen. Wenn ich eine Überschrift über die Lebens-, Glaubens- und Berufungsgeschichte der hl. Klara setzen müsste, würde ich die Worte schreiben: Sehnsucht nach mehr, Sehnsucht nach Gott. Von Klara und Franziskus wird erzählt, dass sie sich nach längerer Trennung wieder sahen. Sie trafen sich an einem Bach, jeder von ihnen auf einer Bachseite. Sie suchten eine Brücke, aber es gab keine. Franziskus war darüber traurig, Klara aber blieb beharrlich. Sie sagte: Wir gehen den Bach hinauf, bis zur Quelle. Dort ist das Wasser niedrig und wir können es leicht überqueren. Es dauerte Stunden. Schließlich erreichten sie die Quelle des Baches. Sie schöpften aus der Quelle und tranken das Wasser wie eine Köstlichkeit. Und Klara sagte: So ist unser Leben. Wir sind unterwegs. Jeder auf dem eigenen Weg. Menschen sind nicht geschaffen, einander zu haben und zu benutzen. Menschen sind geschaffen, um miteinander zu ihrer Quelle zu finden. Menschen sind geschaffen, um Gott zu genießen. Wenn die Klarissen im Geist der Klara in strenger Klausur leben, dann sagen sie uns und unserer Zeit damit: Menschen brauchen einen geschützten Raum, um Gott zu begegnen. Wir brauchen einen Raum, in dem Gott sich uns schenken kann; wir brauchen einen Raum der Stille, in dem Gott sich bei uns aussprechen kann; wir brauchen einen Raum des Gebetes, in dem Gott in uns hinein wachsen kann. Wir und unsere Zeit brauchen Gott! Die Gelübde, gelebt nach der Spiritualität des hl. Franziskus und der hl. Klara, sagen uns und unserer Zeit: Das Gelübde der Armut: Es ist ein Segen, wenn Menschen freiwillig einfach leben und wenn wir uns nicht abhängig machen von Menschen, von Dingen und Gewohnheiten. Armut als die immer aktuelle Einladung: Das Sein kommt vor dem Haben. Weniger kann oft sehr viel mehr sein. Der Mensch bekommt nicht Wert und Würde durch das Haben und das Immer-mehr-haben-wollen; er hat Wert und Würde durch sein Sein. Armut als die große befreiende Entlastung, so Vieles nicht haben zu müssen! Das Gelübde des Gehorsams: Es ist ein Segen, wenn Menschen als Hörende leben; wenn Menschen sich etwas sagen lassen; wenn Menschen sich nicht einbilden, alles besser zu verstehen, alles besser zu wissen, auf alles eine Antwort zu haben. Es ist ein starkes Zeichen, wenn Menschen sich unter das Wort Gottes stellen und unter eine geistliche Regel und wenn Menschen darauf vertrauen, dass der Wille Gottes uns durch Menschen erreichen will. Ungehorsam ist kein Wert des Evangeliums! Das Gelübde der Ehelosigkeit: Es ist ein Segen, wenn es Menschen gibt, die freiwillig ehelos leben, um ganz offen zu sein für die Anfrage Gottes und sensibel für die Nöte der Menschen. Es ist ein starkes Zeichen, wenn Menschen freiwillig die Lebensweise des armen Jesus zu ihrer eigenen machen und wenn sie uns alle, über diese Welt hinausweisen auf Gott und seinen Himmel. Seit den Tagen der hl. Klara gibt es hier in Brixen eine Gemeinschaft der Klarissen. Heute danke ich als Bischof für diese Gemeinschaft und für allen Segen, der seit fast 800 Jahren von hier ausgegangen ist auf unsere Bischofsstadt und auf unser Land. Es ist eine stille, fast verborgene und doch so sprechende Präsenz. Eine Gemeinschaft, die wie ein Stachel im Fleisch unserer Gesellschaft und unserer Kirche uns alle eindringlich erinnert an die Notwendigkeit, an die Kraft und an die Macht des Gebetes und des stellvertretenden Seins. Eine Gemeinschaft, die uns durch ihr Sein mahnt, das Vordergründige, das Laute, das Auffällige, die täglichen Schlagzeilen nicht mit dem Leben selber gleich zu setzen oder zu verwechseln. Die Gemeinschaft der Klarissen sind eine heilsame und einprägsame Präsenz, die uns auch als Kirche mit all ihren Aufgaben und Ämtern mahnt: Wir sind nicht Selbstzweck; es geht nicht um uns, sondern um Gott und um das Kommen seines Reiches. Dasein für und vor Gott, Dasein um Gottes Willen, das Bekenntnis leben, dass es Gott gibt und braucht, die Welt und die Kirche Gott hinhalten und zu ihm bringen dafür leben die Klarissen, auch stellvertretend für uns alle.Ich bitte heute Gott, dass unserer Ortskirche dieser Ort des Gebetes, der Gottsuche und der Anbetung erhalten bleibt! Liebe Schwesterngemeinschaft, liebe Schwestern und Brüder!Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen? so fragt Petrus, der erste der Apostel, und so fragen Menschen zu allen Zeiten. Wozu sich auf Jesus und seinen Weg einlassen? Was bringt mir das? Welchen Vorteil habe ich davon? Was schaut dabei für mich heraus? so klingt die Frage des Petrus in unserem Herzen und in der Sprache unserer Zeit.Klara, diese starke und innerlich freie Frau, hat die radikale Antwort Jesu zu ihrer eigenen gemacht, nicht als Theorie, sondern als gelebte Hoffnung: Wer alles verlässt, wird alles gewinnen! Wer allein auf Gott setzt, wird Gott selber gewinnen! Ich höre Klara, 800 Jahre nach ihrem folgenschweren Haarschnitt und zu ihrem heutigen Festtag, uns zurufen: Lasst euch von niemandem einreden, dass diese Welt die letzte Bestimmung des Menschen sein kann. Ich erbitte Euch eine Sehnsucht nach mehr, eine tiefe Sehnsucht nach Gott.
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