Für eine verantwortungsbewusste Wahlentscheidung aus christlicher Sicht habe ich bereits zum „Tag der Solidarität“ am vergangenen 3. Fastensonntag wichtige Kriterien der ganzen Diözese zur Reflexion empfohlen. Einige Kriterien nenne ich auch heute:
Soziale Gerechtigkeit: Solidarität und Gerechtigkeit sind die entscheidenden Maßstäbe einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Es scheint aber das Gefühl zu wachsen, dass wir uns die „Nächstenliebe für alle“ nicht mehr leisten können. Es braucht mutige, am Gemeinwohl orientierte Antworten, die zusammenführen und nicht spalten. Der christliche Glaube schließt Haltungen wie die Abwertung oder Ausgrenzung anderer Menschen sowie Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit aus. Nationalistische Kräfte haben immer ein bewährtes Muster. Sie verbreiten laufend negative Nachrichten, sie wecken Ängste vor anderen und Hass gegenüber anderen. Verängstigte Menschen sind leichter manipulierbar. Mit einfachen Botschaften, mit einem klaren Feindbild und mit Aufrufen zur Geschlossenheit und zum Zusammenstehen gegen andere, führen sie zur Entsolidarisierung, zur Verunsicherung, zur Verdächtigung und vergiften das Zusammenleben.
Gerechtigkeit für die nächste Generation: Es geht um den Erhalt einer Schöpfung, die zukünftigen Generationen gute Lebensbedingungen ermöglicht. Gleichzeitig geht es aber auch darum, den Kindern und Kindeskindern nicht über Gebühr materielle und finanzielle Belastungen zu hinterlassen.
Eine eindringliche Mahnung für einen bewussten und entschiedenen Einsatz für mehr Umweltschutz und für eine größere Verantwortung aller für unsere „Mutter Erde“ hat Papst Franziskus 2015 mit seiner Enzyklika „Laudato si‘“ ausgesprochen. Die großen Herausforderungen sind : die globale Erderwärmung; der Vorrang der Wirtschaft, besonders der Finanzwirtschaft, vor der Politik; die ungerechte Verteilung der Güter dieser Welt; der nur profitorientierte Markt; der Konsumismus; die Technikgläubigkeit und der fordernde, ungebremste Lebensstil sehr vieler Menschen in der so genannten Ersten Welt.
Das Institut „De Pace Fidei“ hat gemeinsam mit dem Amt für Dialog pünktlich zu dieser Seelsorgetagung eine „Umweltfibel“ herausgebracht. Eine ökologische Wende im Leben der Einzelnen und der Gesellschaft ist möglich und notwendig! Diese Umweltfibel will den Pfarreien und kirchlichen Gruppen dazu eine konkrete Handreichung bieten.
Menschenwürde und Schutz des Lebens: Die Würde und das Recht auf Leben sind dem Menschen vom ersten Augenblick seines Daseins im Mutterschoß bis zu seinem Tode eigen. Das Leben des Menschen ist heilig und hat immer mit Gott selber zu tun! Auf der Seite Gottes stehen nur diejenigen, die sich auf die Seite des Menschen stellen. Gerade an den „Rändern des Lebens“, am Anfang und am Ende, sind wir Menschen besonders auf fremden Schutz angewiesen.
Ehe und Familie: Aufgrund der herausragenden Bedeutung als Keimzelle der Gesellschaft brauchen Ehe und Familie einen besonderen Schutz. Schon im Sozialhirtenbrief von Bischof Wilhelm „Vom Alpha zum Omega“ aus dem Jahr 2003 heißt es: „Andere Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens enthalten zwar auch einige Dimensionen, die für das menschliche Leben wichtig sind. Diese Formen dürfen aber nicht mit der Ehe gleichgesetzt werden. Niemand darf wegen der gewählten Lebensform diskriminiert werden; aber es bleibt eine vorrangige Aufgabe für die kirchliche Gemeinschaft, die Familie zu fördern, die auf der Ehe zwischen Mann und Frau begründet ist.“ Als Schutz für Familien nenne ich auch den entschiedenen Einsatz für unsere Sonn- und Feiertage mit ihren sozialen, kulturellen, familären und religiösen Chancen.
Das friedliche Miteinander: Bischof Joseph Gargitter hatte 1973 zum Abschluss der Diözesansynode ein Merkmal der Diözese Bozen-Brixen genannt, das die bleibende und stets aktuelle Berufung unserer Ortskirche aufzeigt: „Das Wort ,gemeinsam‘ ist ein Losungswort für unsere Arbeit in der Kirche; ,gemeinsam‘ als Einheit im Glauben und in der Liebe, als Mitverantwortung aller für alle, von der Familie über die Pfarrei bis zur Diözese.“
Bischof Wilhelm Egger hat aus dieser Überzeugung sein bischöfliches Leitwort gemacht. Er hat auf seinen Hirtenstab das griechische Wort „syn“ eingravieren lassen. Dieses „syn“ meint das Miteinander der Sprachgruppen, aber auch das Miteinander aller
Berufungen und Charismen für eine Seelsorge in gemeinsamer Verantwortung.
Unser Land kann ein Modell für ein friedliches Europa sein. In Gesprächen und Begegnungen erlebe ich es oft, dass auch von außen auf uns geschaut wird. Das jahrzehntelange Ringen um Autonomie trägt gute Früchte. Aus dem Nebeneinander der Sprachgruppen muss sich noch mehr ein stärkeres Miteinander entwickeln. Es wäre ein Rückschritt, heute noch oder heute wieder verstärkt die Haltung zu fördern: „Je mehr wir uns trennen, um so besser verstehen wir uns.“ Die christliche Alternative lautet: Je besser wir uns kennen lernen, umso besser verstehen wir uns! Von den Zeiten Bischof Gargitters bis heute lautet der Einsatz unserer Ortskirche: Einheit in der Vielfalt, Identität und Verankerung im eigenen ohne Abwertung und Abschottung von der Identität der anderen. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt unseres Landes ist als Reichtum und nicht als Bedrohung zu sehen und zu gestalten. Bestehende Grenzen sollen abgebaut und keine neuen errichtet werden. Die Brückenfunktion Südtirols zwischen dem romanischen und dem germanischen Kulturraum soll nicht nur eine Floskel sein. Ein wichtiger Beitrag zu dieser Brückenfunktion ist die Bereitschaft, dass wir die Muttersprache der jeweils anderen Volksgruppen lernen und - zumindest passiv - verstehen! Ich habe diesbezüglich einen Traum: Simultanübersetzungen, wenn es um unsere Landessprachen geht, sollten bei uns überflüssig werden!
Europa: In der derzeitigen Debatte um Flüchtlinge und Zuwanderung ist der Begriff „christliches Abendland“ wieder populär. Nur: Nicht alles, was sich auf das Christentum beruft, ist auch vom Christentum geprägt! Nicht selten wird heute das „christliche Abendland“ nur mehr als ein Abgrenzungs- und als ein Kampfbegriff verwendet - gegen die anderen, wer immer sie auch sind.
Die Europäische Union ist nach den dramatischen Erfahrungen der Diktaturen und des 2. Weltkriegs gegründet worden, durchaus auch als christlich – humanistische Wertegemeinschaft. Der europäische Geist verliert heute aber an Kraft. Das große Wir zerfällt in immer kleinere Wirs. Im Haus Europa sind die Bewohner dabei, sich wieder mehr in ihre eigenen vier Wände zurück zu ziehen. „Vorsicht vor diesem Wir“ – kann man immer häufiger hören! „Zuerst wir – und dann die anderen“: das sind die neuen Töne, die wieder salonfähig werden.
Paulus hat entscheidend dazu beigetragen, das Christentum nach Europa zu bringen. Von ihm stammt die Aussage: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Über sich selber schreibt der Völkerapostel: Er sei den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche geworden (vgl. 1 Kor). Das ist christliche Identität! Eine Identität, die die eigenen Wurzeln kennt, pflegt, verteidigt und lebt – im offenen und konstruktiven Dialog mit der Identität der anderen.
Er träume von einem inklusiven Kontinent, sagte Papst Franziskus in seiner Dankesansprache anlässlich der Verleihung des Karlspreises, wo es kein Verbrechen ist, Migrant zu sein, sondern einen Einsatz für die Würde des Menschen auslöst. Damit wendet er sich gegen die Versuche, die Menschen auch mit Hilfe der Religion gegeneinander aufzubringen. Christen haben die Aufgabe, aus der Kraft des Evangeliums Zukunft zu gestalten und nicht Ängste zu schüren; und sie sollen Gründe zur Hoffnung in die Gesellschaft einbringen. Wir werden das nur tun können, wenn wir selber Christen sein und bleiben wollen!
Dank
Liebe Mitbrüder, liebe Ordensleute, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen Bereichen der Seelsorge, ich bitte darum, dass wir den Weg gemeinsam weitergehen – unter dem Wort Gottes und untereinander verbunden durch einen ehrlichen, offenen und konstruktiven Dialog.
Mein ganz besonderer Dank gilt allen, die am Beginn dieses neuen Arbeitsjahres einen Auftrag oder einen Dienst abgegeben und zurückgelegt haben. Ich bitte weiterhin um euer Mitsein, Mitdenken, Mittragen, Mitgehen, Mitarbeiten. Allen, die eine neue Aufgabe übernehmen in der Pfarrseelsorge, in der Jugendseelsorge und in den verschiedenen seelsorglichen Bereichen in unserer Diözese wünsche ich, dass wir uns gegenseitig stützen, helfen und zur Seite stehen und dass wir auf dem eingeschlagenen Weg bleiben – auf SEIN Wort hin, in Freude und Hoffnung. Ganz besonders bin ich unseren beiden Neupriestern verbunden, die als Kooperatoren starten, und allen kranken, älteren und alten Mitbrüdern, auf deren Schultern wir heute versuchen das weiterzubauen, worum sie sich bemüht haben.
Vergelt´s Gott für alle Formen des gemeinsamen Unterwegsseins im Glauben. Vergelt´s Gott für die Bereitschaft, gemeinsam Mühen, Lasten und offene Fragen auszuhalten und zu tragen. Vergelt´s Gott auch für das Vertrauen und das Wohlwollen, das viele von euch mir entgegenbringen.
Maria, deren Geburtstag wir heute feiern, erbitte uns die geistliche Freude, Morgenröte zu sein im festen Vertrauen, dass auch heute Christus als d i e Sonne aufgeht und scheint. Und Josef Mayr – Nusser mache uns gerade auch in diesem Arbeitsjahr mit dem Schwerpunkt der Berufungen Mut, Zeugen und Zeuginnen zu sein. Das ist „unsere einzige, schlagkräftigste Waffe“, wie er sich ausgedrückt hat. Das ist unser Auftrag! Dafür braucht es uns – jeden und jede, und uns alle gemeinsam.
Giulan, De gra, un sentito e cordiale grazie, vergelt´s Gott!
+ Ivo Muser
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