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Hirtenbriefe

Solidarisch sein wie ER

Liebe Schwestern und Brüder in unserer Diözese Bozen–Brixen!
Immer, wenn wir auf den gekreuzigten Christus blicken, schauen wir in das tiefe Geheimnis unserer Wirklichkeit. In diesem entstellten, erniedrigten, besiegten und getöteten Menschen sehen wir jede Tragödie, jedes Schicksal, jede Niederlage der Geschichte. Gleichzeitig sehen wir auch den Herrn, der alles wieder zum Leben erweckt und mit Leben erfüllt. Ja, wir sehen das größte Geschenk Gottes an uns: das offene Tor zur Herrlichkeit der Auferstehung, die Verheißung der Fülle des ewigen Lebens. In diesem Menschen sehen wir das Geheimnis der Liebe Gottes und seine Solidarität. ER ist die Solidarität Gottes mit der ganzen Menschheit. Er, der zu uns sagt: „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach” (Lk 9,23). Er braucht seine Jünger und Jüngerinnen, er will, dass wir sind wie er, er will, dass wir solidarisch sind: Seid solidarisch! Der Aufruf der Kirche zur Solidarität steht im Zentrum des Evangeliums, die Nächstenliebe fordert uns jeden Tag und in jeder Situation unseres Daseins heraus. In der Bergpredigt vermittelt uns der Herr die goldene Regel: “Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten” (Mt 7,12). Diese Regel ist Bestandteil aller großen Religionen, sie wird von Nicht-Christen und Nicht-Gläubigen geteilt und gehört zur wahrhaftigen menschlichen Existenz. Die Kirche ist „in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen gentium, 1), gerade weil sie in Ihm die Kraft fi ndet, seinem Auftrag zu folgen: „Du sollst den Herrn, deinen Go tt, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lk 10,27). Das Maß dieser Liebe ist seine eigene Liebe: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,12). Christus, der sich uns am Kreuz schenkt, ist Grundlage und Maß unserer Liebe: Seid solidarisch!
Gemeinsam auf dem Weg Es gibt keine Alternative zur Solidarität Wenn wir von Solidarität, Gerechtigkeit und Gemeinwohl sprechen, wird es wahrscheinlich nur wenige geben, die diese Prinzipien nicht teilen. Sie aber zu leben, wenn die konkrete Situation es verlangt, ist schwieriger und anspruchsvoller: Als einzelne Personen, aber auch als Familie, Gruppe oder Pfarrgemeinde finden wir oft und leicht Gründe, uns nur begrenzt für andere zu engagieren. Wenn aber die Solidarität im sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Alltag Ausdruck der Liebe Gottes ist, dann ist Solidarität nicht nur ein „Optional“ oder eine Theorie: Dann bringt mich die Solidarität dazu, „das Andere, auch das, was fremd erscheint und mich nichts angeht, zu erkennen“ und dessen Schicksal nicht gleichgültig hinzunehmen (Kardinal Carlo Maria Martini). Der heilige Papst Johannes Paul II. hat uns gelehrt, dass Solidarität „nicht ein Gefühl vagen Mitleids oder oberfl ächlicher Rührung wegen der Leiden so vieler Menschen nah oder fern“ ist. Im Gegenteil, sie ist die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, das heißt, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind (Sollicitudo rei socialis, 38). Die Welt besteht nicht aus einem Nebeneinander von eigenständigen, unabhängigen Individuen: Wir stehen alle in Beziehung zueinander und zur Welt; unser Wohl kann nicht vom Wohlergehen der Mitmenschen getrennt werden; das eigene Wohl kann nicht ohne die anderen – oder sogar gegen sie – erreicht werden. Solidarität verlangt von uns, alle Konsequenzen aus der „Begegnung mit Jesus Christus in den Beziehungen zur Welt”, die uns umgibt, zu ziehen, und zwar „stetig und ausdauernd‘” (Laudato si‘, 217). Für Christen und Christinnen muss Solidarität zu einer steten Bereitschaft im Denken und Handeln werden; Solidarität ist eine Haltung, eine Tugend.
Solidarität gehört zur christlichen Identität In unserer Diözese und in unserem Land zeigen sich Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und Einsatz für Mitmenschen und Schöpfung auf vielfältige Art und Weise: in den Pfarreien und in der Caritas, in Ordensgemeinschaften, in Laienverbänden, in kirchlichen und nicht-kirchlichen Vereinigungen. Sie bemühen sich um Aufnahme und Unterstützung jeglichen menschlichen Lebens, von der Empfängnis bis zum Tod; sie machen sich verdient um die Eingliederung der Schwächsten und Benachteiligten und setzen sich für die Würde aller ein. Hinzu kommt das vielfältige Engagement der öffentlichen Hand. Ehrenamt und Freiwilligentätigkeit sind weit verbreitet; oft findet der Einsatz im Stillen statt. Dieses Wirken ist wichtig für das starke soziale Netz, über das unsere Gesellschaft noch verfügt: Wie viele einsame Menschen werden besucht, wie viele Leiden gelindert und wie viel Bedürftigkeit erkannt? Wie viele Projekte zur Unterstützung der Armen in unserem Land und auf der ganzen Welt werden von Missionsgruppen und Pfarrgemeinden großzügig und engagiert gefördert und unterstützt? Wie viel „intelligente Nächstenliebe“ (Kardinal Carlo Maria Martini) entfaltet sich täglich? Diese Solidarität hält unsere Gesellschaft zusammen; sie kann und darf nicht nur den Institutionen überlassen werden, sondern ist Aufgabe für jede und jeden von uns. Nächstenliebe kann nicht delegiert werden: Seid solidarisch!
Für eine solidarische Gesellschaft Option für die Armen Solidarität ist auch ein soziales Ordnungsprinzip von Institutionen. Gesellschaften brauchen sozialen Zusammenhalt, um sich voll entfalten zu können, während Unterschiede, Ungleichheiten und Spannungen deren Funktionieren und Entwicklung hemmen. Entweder wir entwickeln uns gemeinsam weiter, oder es geht früher oder später in die falsche Richtung: Wir sind aufeinander angewiesen und tragen alle zum gesellschaftlichen Wohl bei. Gott hat sich auf die Seite der Armen gestellt, zum Wohl aller Menschen; dies ist eine Entscheidung für die gesamte Gesellschaft, und wer am Rande steht, muss ernst- und wahrgenommen werden. Es ist unsere Aufgabe, das Leben jedes Menschen zum Blühen zu bringen. Das setzt Netzwerke des Vertrauens voraus, nicht das Schüren von Ängsten jenen gegenüber, die anders sind. Der von Solidarität geprägte Blick kann die Anderen als Nutzen und Ressource erkennen. „Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt“ lehrt uns Papst Franziskus (Evangelii gaudium, 226). Eine solidarische Gesellschaft ignoriert ihre Probleme nicht, sondern sucht mit Vertrauen und Hoffnung nach Lösungen. Wir laufen immer stärker Gefahr, als Konsumierende und als „User“, als isolierte Individuen, als Kunden und Kundinnen in einem Produktionssystem betrachtet zu werden. Darauf dürfen wir uns nicht reduzieren lassen. Wir sind Menschen mit Möglichkeiten und Grenzen, Träumen und Misserfolgen. Wir sind Menschen, die akzeptiert und geliebt werden wollen. Wir sind Kinder und Geschwister, Väter und Mütter, wir leben und entwickeln uns in den Familien, mit gemeinsamer Sprache, in einem gemeinsamen Umfeld. Miteinander teilen wir das schöne Land, das uns geschenkt ist. Wir sind Teil eines Wirtschaftssystems, produzieren Güter, pflegen Wirtschaftsbeziehungen, wir arbeiten und konsumieren. Aber nicht nur. Die Wirtschaft muss im Dienste der Menschen stehen – nicht umgekehrt; die Entscheidungen für einen Arbeitsplatz oder für das Konsumverhalten folgen immer einer Logik. Wir haben bei jeder Entscheidung die Möglichkeit, Geld als Mittel zum Zweck einzusetzen, ohne ihm alles unterzuordnen. Wir sind Bürger und Bürgerinnen mit unveräußerlichen Rechten und Pfl ichten. Als solche sind wir gefordert, uns an der Entwicklung des Gemeinwohls zu beteiligen und neue Mitbürger und Mitbürgerinnen aufzunehmen und zu integrieren. Wir müssen das soziale Netz verstärken und nicht abbauen. Und ebenso müssen wir bereit sein, die Lasten und Kosten zu schultern, die uns ein engmaschiges soziales Netz auferlegt.
Die Europäische Union Wir dürfen es als Geschenk betrachten, an der europäischen Einigung teilhaben zu können. Mit der Europäischen Union, diesem einzigartigen Projekt im Zeichen von Humanität und Zivilisation, das – wie Bischof Karl Golser 2009 schrieb – “im Dienst der gesamten Welt” steht, tragen wir die Verantwortung für den Aufbau eines sozialen und einladenden Europa, für ein Europa, das alle Phasen des Lebens respektiert, ein geschwisterliches Europa, das auf Vielfalt bedacht ist, ein Europa der Begegnungskultur und ein Europa der Freiheit. Die Strukturen der Sünde müssen in Strukturen der Solidarität umgewandelt werden: Dazu können wir alle beitragen. Wir sind aufgerufen, die Erde – unser gemeinsames Zuhause – zu schützen und zu pflegen. Wir müssen verantwortungsbewusste und nachhaltige Lebensstile entwickeln. Kleine Anpassungen sind zu wenig, ein echter ökologischer Wandel ist notwendig. Seid solidarisch!
Unsere Aufgabe Vor 27 Jahren hat Bischof Wilhelm Egger den Hirtenbrief „Denkt an die fünf Brote. Unsere Sorge für Mensch und Schöpfung” zum Weiterschreiben in den Pfarreien veröffentlicht. Der Brief war das Ergebnis einer dreijährigen Auseinandersetzung mit den Themen Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung. Zehn Jahre später, 2002, folgte der Hirtenbrief „Vom Alpha zum Omega. Sozial-Alphabet für die Diözese Bozen-Brixen“, in dem es um den Dienst am Nächsten und um die Selbstverpflichtungen der katholischen Verbände Südtirols geht. Seit der Veröffentlichung der beiden Hirtenbriefe hat sich in der Welt, in unserem Land und in der Diözese, viel verändert. Nicht verändert hat sich das Engagement für Mensch und Schöpfung. Wir brauchen weiterhin ein Wörterbuch der guten Worte, der Worte des Friedens und nicht der Gewalt, der Worte der Begrüßung und nicht der Ablehnung, der Worte der Wahrheit und nicht der Lüge.
Sozial- Alphabet für die Diözese Das Bedürfnis von Christinnen und Christen, ihr Leben zwischen dem Alpha des Wortes Gottes und dem Omega der Eucharistie zu leben, besteht weiter. Gemeinsam müssen wir erkennen, zu welcher Berufung wir als Einzelne, als Gemeinschaft und als Kirche berufen sind. Welches Verhalten im Sinne des Evangeliums erwartet sich der Herr von uns? Wie möchte er, dass seine Gemeinschaft lebt? Dem Herrn auf dem Weg des Kreuzes zur Auferstehung zu folgen, ist eine große und anspruchsvolle Aufgabe, die von den Entwicklungen der gesamten Gesellschaft beeinflusst wird. Ich bitte deshalb alle, unsere gemeinsame Geschichte mit dem Sozial-Alphabet weiterzuschreiben. Ich bitte alle – auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene – die Werte, die uns leiten, zu vertiefen und das Leben so zu gestalten, dass es dem Evangelium entspricht. Jesus „war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich” und „er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz” (Phil 2,6-8). So wie Jesus sind auch wir aufgerufen, Diener und Dienerinnen der anderen zu sein, und auf diese Weise die Solidarität Christi nachzuahmen. Der Slogan „Wir zuerst“ hat dann seine Berechtigung, wenn wir damit ausdrücken, dass Christinnen und Christen die ersten sind, die Hilfebedürftige unterstützen und im Dienst am Nächsten gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Seid solidarisch!
Osterwunsch Solidarisches Handeln ist österliches Handeln Christus ist für uns solidarisch geworden, bis in den Abgrund seines Todes am Kreuz. Deswegen ist ein solidarischer Weg in seiner Nachfolge ein österlicher Weg - über die Gleichgültigkeit zur Anteilnahme, über das Wegschauen zur konkreten Hilfe, über das Kreuz zur Auferstehung, über den Karfreitag zum Ostermorgen. Solidarisches Handeln ist immer österliches Handeln! Der gekreuzigte und auferstandene Herr sei unsere Kraft, unsere Motivation und unsere Freude. Möge Ostern, das älteste, wichtigste und größte Fest unseres Glaubens, uns Mut machen, solidarisch zu sein wie ER.

Euer Bischof

3. Fastensonntag (Tag der Solidarität), 24. März 2019