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Hirtenbriefe

Hirtenbrief zur Fastenzeit: "Mit Josef Mayr-Nusser unser Gewissen bilden"

Liebe Schwestern und Brüder in unserer Diözese Bozen-Brixen!

Am 18. März wird Josef Mayr-Nusser selig gesprochen. Weil er sich geweigert hatte, den SS-Eid auf Hitler abzulegen, wollte man ihn ins Konzentrationslager Dachau bringen. Er verstarb auf dem Weg dorthin am 24. Februar 1945 in einem Viehwaggon in der Nähe von Erlangen an den Folgen der Haft. Wir verehren ihn als einen Märtyrer des Gewissens. Im Fastenhirtenbrief 2010 hat Bischof Karl Golser, der in der Weihnachtsnacht 2016 gestorben ist, über ihn geschrieben: "In seinem geschulten Gewissen und in seiner Kenntnis über die Untaten des Nationalsozialismus war ihm eindeutig klar, dass man einem verbrecherischen Führer nicht einen Gehorsamseid leisten darf. So war die Eidverweigerung die logische Folge seines ganz auf die Nachfolge Christi ausgerichteten Lebens, und so fühlte er sich im Gewissen verpflichtet, im Ernstfall auch sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, trotz der Verpflichtungen der eigenen Frau und dem eigenen Kind gegenüber."

Wenn ich mit Ihnen, liebe Gläubige, anlässlich der Seligsprechung von Josef Mayr-Nusser über die Bedeutung des Gewissens nachdenken möchte, dann auch um einen wichtigen Aspekt des moraltheologischen und geistigen Vermächtnisses von Bischof Karl in Erinnerung zu halten.
Im bereits erwähnten Fastenhirtenbrief schreibt Bischof Karl weiter: "Fragen wir uns: Wo spricht der Heilige Geist in uns, damit wir auf ihn hören können? Der Ort im Menschen ist sein persönliches Gewissen". Danach zitiert er das Zweite Vatikanische Konzil, welches das Gewissen folgendermaßen beschreibt: "Im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, sondern dem er gehorchen muss und dessen Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten und zur Unterlassung des Bösen anruft und, wo nötig, in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes. […] Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist. Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten seine Erfüllung hat". Biblisch gesprochen, so Bischof Karl weiter, können wir das Gewissen als "das Herz des Menschen", als "sein Innerstes", als "Ort der Erkenntnis des Guten" und des "Dialogs zwischen Mensch und Gott" verstehen. Ausgehend davon, möchte ich drei Aspekte vertiefen.


1. Das Gewissen als Ort im Innersten eines jeden Menschen, wo er auf Gott hören und ihm begegnen kann

Der heilige Augustinus bringt diese Gotteserfahrung zum Ausdruck, wenn er in seiner geistlichen Selbstbiographie bekennt: "Gott, du bist tiefer als mein Innerstes und höher als mein Höchstes" (Confessiones III, 6). Wenn ich im Gewissen diesem Gott begegne, der mich besser kennt als ich selbst mich kenne, dann darf ich mich von diesem Gott anblicken lassen und auch selbst so auf mich und mein Leben schauen, wie Gott es tut. Papst Franziskus schreibt im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben "Amoris laetitia": Es ist Aufgabe der Kirche, Menschen so zu begleiten, dass sie "sich ihrer Situation vor Gott bewusst werden" (AL 300). Der erste Schritt der Gewissensbildung besteht darin, dass ich mich in der Stille und Einsamkeit vor Gott frage: Wer bin ich in den Augen Gottes, vor dem alles offen liegt und vor dem ich nichts verbergen muss? Wie sind mein Leben und meine Situation vor Gott? Wir kennen diese heilsame menschliche Erfahrung: Wenn ich mich von jemandem ganz geliebt und angenommen weiß, brauche ich mich nicht zu verstellen und kann auch selber "ja" zu mir sagen. Das ermöglicht mir, dass ich mir selber und anderen gegenüber offen und ehrlich sein kann.
Josef Mayr-Nusser ist vor allem auch deswegen zu seiner Gewissensentscheidung gekommen, weil er täglich zur Heiligen Messe ging und sich oft mit anderen in der Kirche St. Johann im Dorf in Bozen zu Gebetszeiten getroffen hat. Für ihn war klar, dass ein Christ die Kraft des Gebetes, des Wortes Gottes und der Eucharistie braucht. Er steht vor uns mit der Überzeugung: "Jede echte Gemeinschaft kann nur vom Altar aus aufgebaut werden".


2. Das Gewissen ist ein Ort des Dialogs mit Gott, aber auch des Dialogs mit anderen Menschen

Gott wirkt oft vermittelt durch Menschen, die er uns schickt und die er uns an die Seite stellt. Um die Stimme Gottes erkennen zu können, der im Gewissen zu mir spricht, bin ich auf eine kritische Unterscheidung der Geister und auf das Gespräch mit Personen angewiesen, die im geistlichen Bereich Erfahrung haben. Besonders in Situationen eines Gewissenskonfliktes oder einer schwierigen Entscheidung gilt, was Papst Franziskus schreibt: "Ich lade die Gläubigen […] ein, vertrauensvoll auf ein Gespräch mit ihren Hirten oder mit anderen Laien zuzugehen, die ihr Leben dem Herrn geschenkt haben. Nicht immer werden sie bei ihnen die Bestätigung ihrer eigenen Vorstellungen und Wünsche finden, doch sicher werden sie ein Licht empfangen, das ihnen erlaubt, ihre Situation besser zu verstehen, und sie werden einen Weg der persönlichen Reifung entdecken" (AL 312). Für Josef Mayr-Nusser war neben dem Gebet, der Feier der Eucharistie und dem persönlichen Studium auch der Austausch mit anderen wichtig. Das half ihm, sich eine persönliche Meinung zu bilden, sein Gewissen zu schulen und schlussendlich das für ihn Richtige zu entscheiden. Im Gefängnis bedauerte er sehr, diesen Austausch mit Gleichgesinnten nicht mehr zu haben.


3. Im Gewissen bin ich befähigt, das Gute zu erkennen

Gott ist "der Gute", weil er die Liebe ist (vgl. Mt 19,17; 1 Joh 4,16). In der Begegnung mit ihm spüre ich intuitiv, dass das Gute eine anziehende und verbindliche Kraft hat. Bischof Karl Golser schreibt: "Es kommt darauf an, dass wir feinfühlig werden und spüren, was der Liebe Gottes entspricht, dass wir auf unseren inneren Kompass schauen, der unser eigenes Gewissen ist" (Fastenhirtenbrief 2010). Unsere Einsicht in das Gute wächst und reift im Laufe unserer Lebensgeschichte. Wir sind dabei geprägt durch die Erfahrungen und Begegnungen mit vielen Menschen, angefangen von unseren Eltern, der Schule, den Freunden, von Menschen, die einen besonderen Platz in unserer Lebensgeschichte einnehmen. Durch diese Begegnungen wird unser Charakter, aber auch unser sittliches Empfinden geformt. Letztlich sind wir mit vielen Menschen verbunden in der Suche nach Lösungen auf Probleme, die uns alle betreffen. Das Zweite Vatikanische Konzil betont, wie wichtig der Dialog mit allen Menschen guten Willens ist: "Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und der wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der Einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen" (Gaudium et spes 16). Um darauf eine Antwort zu finden, bedürfen wir auch der Auseinandersetzung mit der moralischen Tradition unseres Glaubens, die als "lebendiges Erbe" sittlicher Erfahrungen und Einsichten von vielen Generationen von Menschen verstanden werden kann. Papst Franziskus betont zudem, dass für uns Katholikinnen und Katholiken "bei der aufrichtigen Suche nach dem Willen Gottes und in dem Verlangen, diesem auf vollkommenere Weise zu entsprechen, die notwendigen Voraussetzungen der Demut, der Diskretion, der Liebe zur Kirche und ihrer Lehre verbürgt sein müssen" (AL 300).

Josef Mayr-Nusser war als Jugendführer die Gewissensbildung ein großes Anliegen. Er forderte Jugendliche dazu auf, zu lernen, eigenständig zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Wer sich um diese Unterscheidung ernsthaft bemüht, läuft nicht mehr blind der Masse und den vorherrschenden Moden hinterher.


Dem gebildeten Gewissen folgen

Liebe Schwestern und Brüder, von Josef Mayr-Nusser, den wir bald als Seligen verehren dürfen, lernen wir, was Gewissensfreiheit bedeutet: Dass wir dem recht gebildeten Gewissen nicht nur folgen dürfen, sondern dass wir ihm folgen müssen! Dem gebildeten Gewissen folgen bedeutet nämlich für uns Christinnen und Christen, Gott in unserem Leben jenen Platz zu geben, der nur ihm zusteht. Nach dem Vorbild unseres neuen Seligen sollen auch wir unser Gewissen so bilden, dass wir in den Herausforderungen unserer Zeit und unter den heutigen Bedingungen Lösungen und Antworten finden, die dem Evangelium und den in die menschliche Natur eingeschriebenen Werten entsprechen. Denken wir nur an die vielen Fragen rund um den Schutz des Lebens: Unsere christliche Verantwortung für den Lebensanfang, für das Lebensende, für die Bewahrung unseres Lebensraumes, für den Umgang mit behinderten, schwachen, kranken, gefährdeten und ausgegrenzten Menschen, für die Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Lebens in all seinen Formen und vor der Schöpfung. Dürfen wir wirklich alles tun, was wir heute tun können? Denken wir auch an die Flüchtlingskrise, die derzeit besonders bedrängend ist und vielen Menschen Angst macht. Wir dürfen diese Problematik nicht verdrängen und nicht wegschauen. Es geht um den Schutz der Würde eines jeden Menschen, aber auch um die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen.

Wie es während des Nationalsozialismus an Menschen wie Josef Mayr-Nusser gelegen ist, sich gegen das damalige Unrechtsregime zur Wehr zu setzen, so liegt es heute an uns, nicht zuzulassen, dass Menschen Unrecht geschieht und sie in ihrer Würde verletzt werden. Das Leben eines jeden Menschen ist heilig und hat immer mit Gott selber zu tun: ein Vermächtnis von Bischof Karl in seiner theologischen Arbeit, und noch mehr durch das Ertragen und Durchleiden seiner unheilbaren Krankheit. Bitten wir Josef Mayr-Nusser um die Ausdauer und Entschlossenheit, unser Gewissen beständig auf Gott hin auszurichten, und um die Zivilcourage, dem Gewissen als dem Kompass unseres Lebens treu zu folgen. Die Verweigerung des SS-Eides auf Hitler war bei ihm kein isoliertes, punktuelles Ereignis, sondern eine Konsequenz und eine Frucht seines ganzen Lebens.

Liebe Schwestern und Brüder, ich lade Sie ein, über diese drei Aspekte nachzudenken und miteinander ins Gespräch zu kommen: Das Gewissen als Ort der persönlichen Begegnung mit Gott; das Gewissen als Ort der sittlichen Unterscheidung und Differenzierung im Dialog mit Gott und den Menschen; das Gewissen als ethischer Kompass, um richtige Entscheidungen zu treffen.

Ich wünsche uns allen einen guten, entschiedenen und fruchtbaren Weg auf Ostern zu, unser ältestes und größtes christliches Fest! Christus, unser gekreuzigter und auferstandener Herr, schenke uns - auch im Schauen auf das Lebens- und Glaubenszeugnis von Josef Mayr-Nusser - einen hoffnungsvollen und mutigen Glauben: über das Kreuz zur Auferstehung.

Euer

Bischof Ivo Muser