«Die Kraft des Lebens überrascht uns: „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt?“ (Mk 8,36)» – unter diesen Leitgedanken stellt die Italienische Bischofskonferenz den „Tag des Lebens“, der auch 2024 wieder am ersten Sonntag im Februar begangen wird.
Im Alltagsleben fragen wir oft: "Was ist das wert?" Wir kennen Messwerte, Grenzwerte und Wertpapiere. Sie unterliegen der Definition des Menschen, sie sind verhandelbar. Das Wort "Wert" stammt aus der Wirtschaft, vom Markt. Dort hat es seine Berechtigung. Aber „der Wert“ verliert seine Aussagekraft und seine Bedeutung, wenn es um Unbezahlbares geht.
Genau um dieses Unbezahlbare geht es, wenn wir über den Menschen und sein Leben nachdenken. Der Mensch hat nicht einen Wert, der Mensch hat Würde! Der Philosoph Immanuel Kant hat das klar erkannt, wenn er sagt: "Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes ... gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist ... das hat eine Würde."
Würde gehört nicht auf den Markt. Würde ist nicht verhandelbar und messbar, nicht austauschbar und nicht verfügbar. Sie ist nicht an Bedingungen geknüpft, sondern gilt unbedingt. Sie schützt davor, dass der Mensch Mittel zum Zweck wird. Wie oft lassen sich Menschen von der Überzeugung leiten: Nur der gesunde, der attraktive, der sportliche, der erfolgreiche und leistungsfähige Mensch ist „in“. Der „Wert“ des Lebens und des Menschen wird nicht selten danach bemessen, was Menschen haben und können, was sie bieten, was sie aufweisen und was sie leisten.
Das christliche Gottes- und Menschenbild ist eine deutliche Alternative, die heute dominierende Leitideen in Frage stellt. Der Mensch hat immer Würde: von der Empfängnis bis zum Tod. Auch durch Leid, Behinderung und Krankheit wird diese Würde nicht verloren. Deswegen sollen Menschen an der Hand, nicht durch die Hand eines anderen Menschen sterben dürfen. Gerade am Lebensende eines Menschen ist es unsere Aufgabe, Nähe zu zeigen und zu leben: Indem wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, das körperliche und psychische Leiden zu lindern. Indem wir alles tun, um sterbende Menschen sozial einzubinden und menschlich und geistlich zu begleiten. Aber auch, indem wir die Grenzen der Medizin annehmen und niemanden gegen den eigenen Willen therapieren. Wenn Therapien ihr Ziel nicht mehr erreichen, dürfen sie abgebrochen oder unterlassen werden.
Nicht primär aus unserer Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit leben wir, sondern aus Vertrauen und Mitmenschlichkeit, nicht aus unserem Machen, sondern aus unserem Sein. Wir müssen uns nicht selber entwerfen und produzieren, wir dürfen sein. Das ist unsere Würde. Lassen wir uns von der Kraft des Lebens überraschen!
Als Christinnen und Christen glauben wir an den „lebendigen Gott“ (vgl. Dtn 5,26; Jer 23,36; Hebr 12,22 u.a.). In dieser biblischen Bezeichnung Gottes kommt zum Ausdruck, dass unser Gott das Leben in Fülle ist. Zugleich verweist sie uns darauf, dass alles Lebendige in Gott seinen Ursprung hat und einen göttlichen Funken in sich trägt. In jedem Menschen spiegelt sich etwas wider vom Geheimnis des lebendigen Gottes. Darin liegt nach christlicher Überzeugung der tiefste Grund für die unantastbare Würde jedes Menschen. Und daraus erwächst zugleich die Verpflichtung, dass wir uns mit aller Kraft für den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens einsetzen – vom ersten Augenblick seiner Existenz an bis zum letzten Atemzug. Das Leben im Mutterleib, das beeinträchtigte Leben, das Leben des Flüchtlings, das kranke und sterbende Leben und sogar das Leben des Feindes sind heilig. Lassen wir uns vom Geheimnis, von der Vielfalt und von der unbezahlbaren Würde des Lebens überraschen!
Mein Dank gilt allen, die sich aus ihrem Glauben an den lebendigen Gott und aus dem Bewusstsein um die umfassende Solidarität aller Menschen heraus für das Lebensrecht und die Würde jedes Menschen einsetzen. Ich danke allen, die schwangere Frauen durch Beratung und Unterstützung ermutigen, Ja zum ungeborenen Leben zu sagen, das in ihnen heranwächst. Ich danke allen, die sich auf die Seite derer stellen, die auch in unserer Gesellschaft nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen und die auf Hilfe angewiesen sind. Ich danke allen, die durch fürsorgliche Begleitung und palliative Pflege schwerkranken und sterbenden Menschen helfen, ihr Sterben als Teil des Lebens anzunehmen. Ich danke allen, die sich einsetzen für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung, hierzulande und weltweit, weil es um die unabdingbaren Voraussetzungen dafür geht, dass Menschen in Würde und in Sicherheit leben können.
Ja, es nützt nichts, die Welt zu gewinnen und dabei das Leben zu verlieren.