„Am Abend des ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen hatten, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch!“ (Joh 20, 19): An diese Ostererfahrung habe ich in den vergangenen gut zwei Monaten oft gedacht. Dieses starke biblische Bild hat mich durch diese Zeit begleitet und mir auch geholfen: Der Abendmahlssaal ist geschlossen, aber der Gekreuzigte ist nicht mehr in seinem Grab! Nicht einmal die verschlossenen Türen können ihn aufhalten. ER war und ist da – auch in den vielen Wunden, die die Coronakrise geschlagen hat und immer noch schlägt.
Sehr unterschiedliche Reaktionen haben mich in diesen Monaten erreicht. Auch Druck, egoistische und ideologische Positionen habe ich erlebt. Wie könnte es auch anders sein bei einer Herausforderung, die uns alle überfallen hat wie „ein Dieb in der Nacht“.
Aber vor allem habe ich viel Vernetzung, Solidarität, Verantwortung, Bereitschaft, Phantasie, Verständnis, Dankbarkeit, Geduld, Demut und Hoffnung in dieser neuen, ungewohnten und auch schmerzlichen Zeit erlebt. Viele Menschen haben mir geschrieben und mir erzählt, was sie bewegt, was sie belastet, wie sie versuchen, vom Glauben her diese Erfahrung zu deuten und zu bewältigen. Dafür danke ich aufrichtig! Sehr viele haben auch die Eucharistie und andere Gottesdienste über die Medien mitgefeiert. Eine wertvolle Möglichkeit, die viele genützt haben.
Krisen fördern das Beste im Menschen, sie zeigen aber auch die Schwachstellen. Not lehrt beten, aber auch fluchen. Krisen laden ein zur „Unterscheidung der Geister“. Schwierige Zeiten und Erfahrungen machen deutlich, wie krisenfest unser Glaube ist, wie wir umgehen mit offenen, ungelösten und auch leidvollen Fragen, auf die es keine schnellen und glatten Antworten gibt.
Ab dem 18. Mai wird der „geschlossene Abendmahlssaal“ wieder geöffnet für alle Gläubigen! Wird uns dabei die Erinnerung begleiten an das, was wir erlebt haben, was wir lernen mussten und was uns geholfen hat? Wird uns bewusst bleiben, wie wichtig unsere Hauskirchen sind, in denen Menschen persönlich und in Gemeinschaft beten, in denen Familien, Kinder, Jugendliche und Erwachsene den Glauben feiern und leben? Ist in diesen Wochen die Überzeugung gewachsen, dass der gemeinsam gefeierte Gottesdienst nicht zu trennen ist vom „Gottesdienst des Lebens“; dass sich der Glaube vor allem zeigen und bewähren muss im konkreten, alltäglichen, solidarischen, christlichen Leben? Haben uns diese Wochen ein neues Bewusstsein für die Bedeutung des „ersten Tages der Woche“, für den Sonntag gelernt? Werden wir als Gesellschaft und Kirche gestärkt aus der Coronakrise herausgehen, mit dem Mut zum Innehalten, zum Hinterfragen, zum Umdenken, zu einem Nicht-einfach-weitermachen wie bisher, mit einer entschiedenen Verantwortung für Mensch und Schöpfung?
In dieser Zeit der „verschlossenen Türen“ habe ich oft an eine Begegnung gedacht, die ich im Mai 2019 in Rom hatte. Ein Ehepaar aus der ehemaligen Sowjetunion erzählte mir, dass ihre Großfamilie in der Zeit des Kommunismus fast zwanzig Jahre lang ohne Priester und Eucharistiefeier als Christen überlebte. Sie trafen sich Sonntag für Sonntag im Geheimen, hinter verschlossenen Türen und Fenstern, lasen das Wort Gottes, beteten die Messtexte und legten eine alte Stola auf den Tisch, um sich so im Geiste mit jener Eucharistiefeier zu verbinden, die geographisch am nächsten zu ihnen gefeiert wurde. Die Stola stammte vom letzten Pfarrer, den sie in ihrem Dorf hatten und der in ein Straflager verbannt wurde. Ein Glaubenszeugnis, das mich sehr berührt hat!
Ab dem 18. Mai sind öffentliche Gottesdienste wieder möglich. Gott sei Dank! Aber die offenen Türen unserer Kirchen helfen und nützen nur, wenn es eine neue Sehnsucht gibt nach der Begegnung mit dem Auferstandenen in seiner Kirche, in seinem Wort und in seiner Eucharistie. Ich wünsche uns allen die österliche Glaubensüberzeugung, dass das Grab des Gekreuzigten leer ist und dass der Auferstandene immer in unsere Mitte tritt, um uns seinen Frieden und seinen Geist zu schenken – auch bei verschlossenen Türen.
Euer Bischof
+ Ivo Muser
Am Montag, 18. Mai lade ich herzlich ein, dass in den beiden Domen und in den Pfarr- und Ordenskirchen unserer Diözese ein Gottesdienst gefeiert wird (Eucharistiefeier, Wortgottesfeier, Maiandacht, eine Vesper, eine eucharistische Anbetung…). Zeit und Form sollen nach den örtlichen Möglichkeiten gewählt werden. Fünf Minuten lang sollen vor diesem Gottesdienst alle Glocken läuten als ein hörbares Zeichen der Freude darüber, dass wir wieder öffentliche Gottesdienste feiern können. Auch das Gebet für die Verstorbenen der zurückliegenden Monate soll bei diesem ersten, öffentlichen Gottesdienst zum Ausdruck kommen.
+ Ivo Muser