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Predigten

Silvester - Te Deum

Bischof Ivo Muser

Brixner Dom, 31. Dezember 2019

Die Lesung aus dem ersten Johannesbrief, die uns die Liturgie für den 31. Dezember vorlegt, zeigt uns ein Bild von christlicher Gemeinde und Kirche, das am Beginn des zweiten Jahrhunderts schon mit dem Problem der Spaltung zu kämpfen hatte. Anlass war: eine Gruppe von Gläubigen konnte nicht das Bekenntnis zu Jesus Christus mitsprechen, der „im Fleisch gekommen“ ist. Der Schreiber des Briefes sieht darin ein so schweres Vergehen, dass er dieses mit dem Kommen des Antichristen gleichsetzt. Der Antichrist ist der Gegenspieler zu Jesus Christus, dem wirklich Menschgewordenen. Mit anderen Worten: Wer nicht das Geheimnis von Gottes Menschwerdung und damit das Geheimnis von Weihnachten bekennt, kann nicht Christ sein!

Zwei Dinge müssen uns als Kirche von heute besonders aufmerken lassen: Der eigentliche Feind des Glaubens kommt nicht von außen! Diese Behauptung stammt aus einer Zeit, als das Christentum großer Verfolgung ausgesetzt war. Der Widerstand von außen hat der Kirche in ihren Fundamenten noch nie geschadet, wohl aber interne Streitigkeiten. „Sie sind aus unserer Mitte gekommen, aber sie gehörten nicht zu uns“, so die Feststellung in der heutigen  Lesung.

Und zweitens: Zu Christus kann man sich nur ganz oder gar nicht bekennen. Es gibt kein Christsein „light“ oder ein Christsein, in dem Gläubige nach der eigenen Subjektivität wie in einem Supermarkt auswählen. Bekennen gehört zum Glauben so wesentlich dazu, wie das Atmen zum Leben. Die christliche Wahrheit, die letztlich Christus ist, der „im Fleisch gekommen ist“, er der Menschgewordene, der Gekreuzigte und Auferstandene, soll nicht nur erkannt werden, sondern muss zuerst und vor allem bekannt werden! Noch einmal anders gesagt: Die Wahrheit des christlichen Glaubens soll nicht nur theoretisiert, sondern getan werden!

Papst Franziskus hat recht, wenn er sagt: „Der Glaube ist ein „Tunwort“. „Glaube ohne Werke ist tot“, heißt es im Jakobusbrief. Und vom alten Sokrates ist uns das Wort überliefert: „Wer handelt wird schuldig, wer nicht handelt, ist schon schuldig.“

In diesen Tagen rund um den Jahreswechsel schauen viele Menschen zurück, ziehen Bilanz, lassen noch einmal Tage, Ereignisse, Erfahrungen und nicht zuletzt Menschen an ihrem inneren Auge vorüberziehen. Jahresrückblicke in den unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und auch kirchlichen Lebens haben in diesen Tagen eine besondere Bedeutung – und auch ihre Berechtigung und ihren Sinn.

Ich möchte Sie und euch alle bei diesem Dankgottesdienst jetzt teilhaben lassen an drei Begegnungen, in denen ich in besonderer Weise in diesem Jahr erleben durfte, was Bekenntnis zu Jesus Christus bedeutet.

Die erste Begegnung, die ich in der Fastenzeit dieses Jahres hatte: Eine heute 55-jährige Frau wurde mehr als zehn Jahre lang von zwei ihrer Onkel sexuell missbraucht. Besonders schlimm und erniedrigend empfindet sie bis heute, dass ihre Mutter davon wusste und nicht den Mut aufbrachte, dagegen einzuschreiten. Die Art und Weise, wie diese Frau über ihr Leid erzählen konnte, hat mich zuinnerst berührt. Und am meisten beeindruckt hat mich ihre Bereitschaft, zu vergeben – trotz allem. Trotz der vielen Wunden, die ihr zugefügt wurden und trotz der schmerzlichen Narben, die sie wohl ein Leben lang zu tragen hat.

Die zweite Begegnung ereignete sich im Mai: Eine junge Mutter erzählte mir in einem langen, bewegenden Gespräch, dass sie ein schwer behindertes Kind erwartet. Trotz der ablehnenden Haltung ihres Mannes wollte sie ihr Kind zur Welt bringen. Inzwischen hat der Mann sie verlassen; sie bleibt bei ihrer Entscheidung. Mehr als bewundernswert!

Und die dritte Begegnung hatte ich in Rom, während der Vollversammlung der Italienischen Bischofskonferenz, ebenfalls im Mai: Ein Ehepaar aus der ehemaligen Sowjetunion erzählte mir, dass ihre Großfamilie in der Zeit des Kommunismus fast zwanzig Jahre lang ohne Priester und Eucharistiefeier "überlebte". Sie trafen sich Sonntag für Sonntag im Geheimen, lasen das Wort Gottes, beteten die Messtexte und legten eine alte Stola auf den Tisch, um sich so im Geiste mit jener Eucharistiefeier zu verbinden, die geographisch am nächsten zu ihnen gefeiert wurde. Ein Glaubenszeugnis, das mich sehr berührt hat!

Erlaubt mir, dass ich ausgehend von diesen drei Begegnungen, die mir in diesem Jahr geschenkt wurden, einige Fragen formuliere, die uns hinein begleiten sollen in das Neue Jahr 2020 nach Christi Geburt:

Wie leben wir Versöhnung: persönlich, in der eigenen Familie und Verwandtschaft, im Umgang mit Menschen, die sich an uns schuldig gemacht haben?

Wie weit geht unser Bekenntnis zum Leben? Was darf das Bekenntnis zur Würde, zur Unverletzlichkeit und zur Heiligkeit jedes menschlichen Lebens uns kosten?

Was bedeutet mir die Eucharistie? Gibt es bei uns eine Sehnsucht nach der Eucharistie und damit Sehnsucht zu jenem Herrn, der versprochen hat in seinem Wort und Sakrament bei uns zu bleiben bis zum Ende der Tage? Was bedeutet uns das Bekenntnis der nordafrikanischen Christen aus dem Jahre 304: „Ohne Sonntag können wir nicht leben“? Gibt es noch genügend Menschen, die heute unter uns bekennen können: „Ohne Herrentag, ohne Herrenmahl und ohne Beziehung zur Herrengemeinde können wir als Christen nicht leben und überleben?“

Zum Schluss ein großer Dank. An alle Menschen guten Willens, die mit der Kirche gehen, auch in schweren Stunden. Ich bedanke mich bei allen Frauen und Männern, Priestern, Diakonen, Ordensleuten und Laien, die sich unter den heutigen Bedingungen in Freude und Hoffnung zum Glauben an Jesus Christus und zur Kirche bekennen. Ein herzliches Vergelt’s Gott allen Betenden, die dem Wort Gottes die Treue halten.

Ein besonderes Geschenk in diesem Jahr war für mich auch die Bischofsweihe von don Michele Tomasi, die ich ihm am Fest der Kreuzerhöhung, am 14. September, hier im Brixner Dom spenden durfte. Gottes Segen begleite den Bischof von Treviso und seine Diözese hinein ins Neue Jahr. Im festen Vertrauen darauf, dass 2020 wieder ein Jahr nach Christi Geburt sein wird und damit ein Jahr, in dem Gott selber uns begegnen will in den vielen Begegnungen und Erfahrungen unseres Lebens, dürfen wir mit dem Apostel Petrus bekennen: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens.“ (Joh 6,68)