Auf der Suche nach einem passenden Bild für das Jahresthema “Auf dein Wort hin: innehalten” sind wir auf das Kreuz von S. Damiano gestoßen. Diese bekannte Kreuzesikone steht für eine wichtige Wende im Leben des Hl. Franziskus. Im Innehalten vor diesem Kreuz hat Franziskus den Ruf Christi für sein Leben vernommen - eine Grunderfahrung für seinen gesamten Weg der Heiligkeit.
Carlo Carretto, Was Franziskus uns heute sagt, Herder, Freiburg, 31-33:
Richtung Rivo Torto gab es einen Ort, der mir besonders lieb war; in einer schönen grasigen Lichtung stand da ein seltsam eindrucksvolles Kirchlein, arm und einfach aus rohen Steinen gefügt, in absoluter Stille. Es hieß San Damiano und entsprach genau meinem Geschmack als Liebhaber nicht nur der armen Leute sondern auch armer Kirchen.
In dieses Kirchlein zog ich mich öfters zum Beten zurück. Und während ich dort auf dem Boden saß oder kniete, fiel mir auf, daß in den Mauern und an der Decke erhebliche Risse klafften. Die Kirche war am Zerfallen. Im gotischen Bogen über dem Altar hing ein ergreifendes Kruzifix, in byzantinischem Stil auf Holz gemalt, und was zu mir sprach und mich berührte, war die große Nacktheit Jesu und sein Blick, der aus zwei unfassbar demütigen und milden Augen kam. Ich verbrachte dort Stunden mit Schauen, mit Beten und Weinen. Ich weinte so sehr, daß ich mich vor mir selbst schämte und zu mir sagte: „Franziskus, bist du denn ein kleines Mädchen!“ Aber ich weinte immer noch, und die Tränen taten mir gut. Eines Tages, als ich wieder das Kruzifix betrachtete, hatte ich den deutlichen Eindruck, als bewegten sich die Lippen des Gekreuzigten, und gleichzeitig hörte ich eine Stimme, die zu mir sprach: „Franziskus, sieh doch, wie mein Haus zerfällt, stell es mir wieder her.“!
Ich kann euch nicht sagen, wie stark ich erschüttert war. Es war mir wie eine Botschaft, die mich aus einer unsichtbaren Welt erreichte und die eine lange Periode von Zaudern, Anläufen und Versuchen besiegelte. Ein unendliches Wohlgefühl durchfloß mich, und ich ging hin, das Kruzifix zu küssen. Ich war allein und hatte keine Angst, auf den Altar zu springen und Jesus mit allem, was ich war, zu umfassen. Ich weiß nicht, wie lange ich da oben blieb.Immer wieder, zwischen Tränen und Seufzern, küßte ich ihn: bald auf die Hände, bald auf die Wunden der Füße und Seite, und meine Hand streichelte ihn sanft in lauter Liebe.
In jener Stunde hat mich das Geheimnis der Inkarnation Christi wie ein Blitz getroffen.
Waren es die Armen, die mir den Stoß gaben, aufzustehen vom Boden und mich auf den Weg zu machen, so wurde das Begreifen der Menschwerdung Gottes für mich die einzige Antwort auf alle Fragen, die ich mir bis dahin in meinem Leben gestellt hatte.